Im Zusammenhang mit der berüchtigten Gurlitt Sammlung und den unzähligen verlorenen, beschlagnahmten und zurückgeforderten Kunstwerken empfiehlt sich die Lektüre des Artikels “Der Missbrauch des privaten Kulturgutbesitzes” von Professor Dr. Hans-Jürgen Hellwig. Der Artikel ist am 2.1.2020 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung unter der Rubrik F.A.Z. – Staat und Recht erschienen.

F.A.Z. – Staat und Recht           Donnerstag, 02.01.2020

Der Missbrauch des privaten Kulturgutbesitzes

Was ist aus den Washingtoner Prinzipien zu von den Nationalsozialisten
beschlagnahmten Kunstwerken geworden?Hans-Jürgen Hellwig

1998 hat die Bundesregierung zusammen mit 23 anderen Staaten die Washingtoner
Prinzipien betreffend von den Nationalsozialisten beschlagnahmte
Kunstwerke unterzeichnet. Sie sehen unter anderem vor, dass derartige
Kunstwerke und ihre Vorkriegseigentümer oder deren Erben ausfindig
gemacht werden – die sogenannte Provenienzforschung. Der Bundestag
hat in einem Beschluss vom 15.11.2019 an die Unterzeichnung erinnert
und aufgelistet, was Deutschland und insbesondere die jetzige Beauftragte
der Bundesregierung für Kultur und Medien (BKM) in Umsetzung der Washingtoner
Prinzipien alles getan hat. Ist das Bild wirklich so positiv wie
dargestellt?

Die Washingtoner Prinzipien sagen selbst, dass sie unverbindlich sind und
dass die Teilnehmerstaaten im Rahmen ihrer eigenen Rechtsvorschriften
handeln. Davon ausgehend, haben die Bundesregierung, die Länder und
die kommunalen Spitzenverbände durch eine Gemeinsame Erklärung von
1990 (vielfach Potsdamer Erklärung genannt) die Washingtoner Prinzipien
nach Deutschland „importiert“ und dabei zum einen erweitert, zum anderen
beschränkt. Zentrale Einrichtung bei der realen Umsetzung der Prinzipien
ist das Deutsche Zentrum Kulturgutverluste (DZK) mit seiner Lost-
Art-Datenbank. Ihren Zweck können Such und Fundmeldungen im Register
nur erfüllen, wenn sie ausreichend spezifiziert sind. Zudem gibt es evidente
Ungleichbehandlungen – wegen der Provenienzlücken für die Zeit
1933 bis 1945 hat die BKM alle Objekte der privaten Sammlung Gurlitt im
Register eintragen lassen, während aus demselben Grunde diejenigen Werke
der öffentlichen Sammlung Berggruen, bei denen nach intensiver Beforschung
Lücken verblieben waren, nicht in das Register eingetragen wurden.
Ebenso verwunderlich ist es, dass zahlreiche Objekte, zum Beispiel
fast die vollständige Sammlung Adelsberger, als mutmaßliche NS-Raubkunst
eingetragen wurden, die erwiesenermaßen bereits einige Jahre vor 1933 von ihren jüdischen Eigentümern wegen ihrer wirtschaftlichen
Schwierigkeiten als Folge der Weltwirtschaftskrise verkauft worden waren.

Das Lost-Art-Register enthält derzeit Meldungen für mehrere Millionen
summarisch erfasste (und deshalb vielfach nicht identifizierbare) Objekte
und etwa 166000 detailliert beschriebene Objekte. Auf den ersten Blick erscheint
letztere Zahl hoch, ebenso wie die durchschnittlich 3,8 Millionen
Euro, mit denen der Bund in den letzten zehn Jahren die Provenienzforschung
gefördert hat. In Relation zur Gesamtzahl von mutmaßlich NS-verfolgungsbedingt
abhandengekommenen Kulturgütern sind diese Zahlen jedoch
verschwindend gering. Nach dem im letzten Oktober veröffentlichten
Ergebnis einer amtlichen Umfrage unter den 1000 Museen in NRW besitzen
die 250 Museen, die geantwortet haben, mindestens 770000 Kunstwerke
mit unklarer Herkunft für die NS-Zeit, das heißt Kunstwerke, bei denen
nach dem Regelwerk des DZK NS-Raubkunst zu vermuten ist. Hochgerechnet
ergibt das für die rund 6800 Museen in Deutschland eine Gesamtzahl
von knapp 21 Millionen mutmaßlichen NS-Raubkulturgütern,
von denen mehr als die Hälfte auf die gut 3400 öffentlichen Museen entfällt.
Die detaillierten Lost-Art-Eintragungen machen also nur 0,8 Prozent
der Gesamtzahlen aus.

Die Zahl der detaillierten Fundeintragungen ist deshalb so gering, weil der
Gesetzgeber es unterlassen hat, in Umsetzung der Potsdamer Erklärung
wenigstens für die öffentlichen Museen, wo er es verfassungsrechtlich problemfrei
könnte, eine Meldepflicht für Objekte mit unklarer Herkunft aus
der NS-Zeit vorzusehen. Das Kulturgutschutzgesetz von 2017 (KGSG) bestimmt
nur, dass wer auch immer Kulturgut in Verkehr bringt, vorher mit
der erforderlichen Sorgfalt Provenienzforschung betreiben muss. Darunter
fallen auch Museen, doch wann wird schon einmal ein Kunstwerk von einem
Museum veräußert? Werke mit bekannter Provenienzlücke bleiben im
Depot. Anders als die Museen und insbesondere die öffentlichen Museen
ist der private Kunstbesitz immer wieder in der Situation, Kunstwerke veräußern
zu wollen oder zu müssen, etwa nach einem Erbfall. Die Pflicht
nach dem KGSG zur Provenienzforschung vor einer Veräußerung trifft deswegen
faktisch vor allem den privaten Kunstbesitz. Dieser ist bei der Veräußerung
und Beforschung durchweg von der Unterstützung durch den
Handel abhängig, denn der Handel hat die erforderlichen geschäftlichen
Kontakte und obendrein Erfahrungen mit der Provenienzforschung. Der
Handel unterliegt mit Blick auf die NS-Zeit einer verschärften Prüfungspflicht,
und zwar ohne aufwendungsmäßige Obergrenze. Andererseits wird
das Inverkehrbringen von abhandengekommenem Kulturgut mit Freiheitsstrafe
bis zu 5 Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. Der Handel hat also nur die Wahl zwischen Pest und Cholera, nämlich der Pflicht zur Provenienzforschung
gegebenenfalls bis zum wirtschaftlichen Ruin und dem Strafbarkeitsrisiko.
Ein Händler, der die Provenienzfrage nicht rasch klären kann,
wird deshalb aus eigenem Interesse das in Rede stehende Kulturgut nicht
in Kommission oder Eigenbestand übernehmen. Wenn danach der Eigentümer
selber die Veräußerung versucht, hat sich sein eigenes Strafbarkeitsrisiko
erhöht, weil er jetzt weiß, dass es unaufgeklärte Provenienzprobleme
gibt.

Die Auswirkungen des KGSG auf Museen und insbesondere öffentliche
Museen einerseits und privaten Kunstbesitz und Handel andererseits sind
derart ungleich, dass sich die Frage stellt, ob im KGSG die Insuffizienz der
Provenienzforschung bei den öffentlichen Museen hinter einer scharfen
Regulierung des privaten Kunstbesitzes und zumal des Handels versteckt
werden sollte. Hat nicht das damalige Argument im Gesetzgebungsverfahren,
der deutsche Kunsthandel mit illegalen Kunstgütern aus dem Nahen
Osten diene maßgeblich der Finanzierung des IS, sich als falsch erwiesen,
nachdem zwei ausländische Studien und auch das Deutsche Bundesministerium
für Bildung und Forschung trotz intensiver Untersuchungen keine
Belege für diese Behauptung gefunden hatten?

Das DZK ist Privatrechtssubjekt, nämlich eine von Bund, Ländern und
kommunalen Spitzenverbänden errichtete rechtsfähige Stiftung bürgerlichen
Rechts. Die Eintragung im Register ist eine öffentliche Bekanntgabe,
dass das gesuchte Kulturgut laut Anmeldung NS-Raubkunst ist, und seit
Erlass des KGSG von 2017 kann ein solches Kulturgut, wie dargelegt, praktisch
nicht mehr veräußert werden. Der Eigentümer wird also in seinem Eigentum
an dem Kulturgut massiv beeinträchtigt. Er kann deshalb nach §
1004 BGB Beseitigung und Unterlassung verlangen. Anders als früher die
Koordinierungsstelle kann sich das DZK gegenüber diesem Anspruch nicht
auf hoheitliche Informationsaufgaben berufen. Nach Art. 33 Abs. 4 GG
dürfen grundsätzlich nur Beamte der öffentlichen Verwaltung hoheitliche
Befugnisse ausüben. Privatrechtspersonen dürfen es nur, wenn sie mit diesen
Aufgaben und Befugnissen wie zum Beispiel die TÜV-Ingenieure beliehen
worden sind („beliehener Unternehmer“), und zwar durch Gesetz oder
aufgrund eines Gesetzes, welches die Befugnisse und Pflichten des Beliehenen
und die Pflichten Dritter gegenüber dem Beliehenen regelt. Ein solches
Gesetz gibt es beim DZK nicht. Ob man bei der Entscheidung für die private
Rechtsform auch an das künftige Risiko der strafbaren Amtsanmaßung
gedacht hat?

Der Bundestag hat in seinem Beschluss des Weiteren die Bundesregierung
unter anderem aufgefordert, Gesetzesvorschläge zur Verbesserung der bestehenden
zivilrechtlichen Rechtspositionen der Alteigentümer von NS
verfolgungsbedingt entzogenem Kulturgut zu prüfen. Deren Ansprüche
sind, soweit sie sich aus den Gesetzen der alliierten Militärregierungen für
die westlichen Besatzungszonen und des deutschen Gesetzgebers für die alte
Bundesrepublik und später für das Beitrittsgebiet der ehemaligen DDR
ergeben, heute nach Ablauf aller Fristen ausgeschlossen. Nicht ausgeschlossen
ist der sogenannte Eigentümerherausgabeanspruch nach § 985
BGB, dem aber der in Anspruch genommene Besitzer entgegenhalten
kann, dass er oder einer seiner Vorbesitzer durch öffentliche Versteigerung
oder durch gutgläubige Ersitzung Eigentum erworben hat beziehungsweise
dass der Anspruch nach 30 Jahren verjährt ist.

In den allermeisten Fällen bestehen deshalb 70 Jahre nach der NS-Zeit die
Ansprüche der Alteigentümer nicht mehr oder sind verjährt. Die jüdischen
Alteigentümer und ihre Opferverbände halten das unter Hinweis auf den
Holocaust für unmoralisch und fordern deshalb eine Neuregelung. Ist es
andererseits unmoralisch, wenn sich jemand, der am NS-Verfolgungsunrecht
nicht selbst mitgewirkt hat, sich darauf beruft, nach geltendem Recht
Eigentümer zu sein? Eine der wesentlichen Errungenschaften der Aufklärung
ist es, dass bei unterschiedlichen Moralvorstellungen nicht die Macht
des Stärkeren entscheidet, sondern das Recht. Der jeweilige Gesetzgeber
hat mit Ausschlussfristen, Schutz der öffentlichen Versteigerung, Ersitzung
und Verjährungseinrede das Spannungsverhältnis zwischen unterschiedlichen
Moralpositionen, zwischen Gerechtigkeit im Einzelfall und Sicherheit
im Rechtsverkehr, im Interesse des Friedens in der Gesellschaft austariert.
Der Gesetzgeber ist frei, diese einmal getroffenen Regelungen zu ändern.
Er muss dabei aber die verfassungsrechtlichen Vorgaben beachten, insbesondere
bei einer Änderung mit Rückwirkung.

In Betracht kommt insoweit auf den ersten Blick eine Inhalts- und Schrankenbestimmung
des Eigentums nach Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG. Es würde
aber bereits an der Grundvoraussetzung für eine solche Bestimmung fehlen,
denn die Regelung würde erfolgen nicht mit Blick auf das Wohl der
Allgemeinheit, sondern mit Blick auf die Interessen privater Anspruchsteller.
Zudem würde wirksam erworbenes Eigentum zur Gänze aufgehoben;
das wäre keine Inhalts- und Schrankenbestimmung, vielmehr würde das
Eigentum in seinem Wesensgehalt negiert, die unabdingbare Wesengehaltsgarantie
des Eigentums wäre verletzt. Die rückwirkende Vernichtung
des Eigentums würde auch gegen das verfassungsrechtliche Vertrauensschutzprinzip
beim Eigentum verstoßen. Das Vorgehen wäre selbst dann verfassungswidrig, wenn eine staatliche Entschädigungsleistung vorgesehen
würde. Nicht ohne Grund ist deshalb der Referentenentwurf des Bundesjustizministeriums
von 2017 „zur erleichterten Durchsetzung der Rückgabe
von abhandengekommenem Kulturgut“ bei der interministeriellen
Abstimmung im Bundesfinanzministerium gescheitert.

Diese verfassungsrechtlichen Schranken gelten nicht für den Kulturgutbesitz
der öffentlichen Museen. Laut Bundesverfassungsgericht kann sich die
öffentliche Hand nicht auf Art. 14 GG berufen. Der Gesetzgeber kann also
ohne weiteres nach dem Vorbild von Österreich in einem Restitutionsgesetz
regeln, dass und in welchem Verfahren NS-verfolgungsbedingt entzogenes
Kulturgut von öffentlichen Museen (und von der öffentlichen Hand
insgesamt) zu restituieren ist (und im Vorfeld einem öffentlichen Register
zu melden). Damit würde er der Tatsache Rechnung tragen, dass das NSUnrecht
des Holocaust vom deutschen Staat begangen worden ist und dass
sich alle staatlichen Organisationseinheiten von heute dieses staatliche Unrecht
zurechnen lassen müssen. Man fragt sich, weshalb Bundesregierung
und Bundestag über ein umfassendes Restitutionsgesetz auch für private
Kulturgutbesitzer nachdenken, die nach der Potsdamer Erklärung gar
nicht unter die Washingtoner Prinzipien fallen und deren Eigentum zu respektieren
ist, andererseits aber von einem rechtlich unproblematischen
Restitutionsgesetz für die öffentlichen Museen absehen, die nach der Potsdamer
Erklärung sehr wohl unter die Washingtoner Prinzipien fallen, die
sich nicht auf Art. 14 GG berufen können und die sicherlich mehr NS-verfolgungsbedingt
abhandengekommene Kulturgüter ihr eigen nennen als
der private Kulturgutbesitz. Sollen die rechtlichen Schwierigkeiten beim
privaten Kulturgutbesitz etwa dazu herhalten, um das Thema beim öffentlichen
Kulturgutbesitz auszusitzen? Der private Kulturgutbesitz und Kulturguthandel
kann sich zunehmend von der öffentlichen Hand für deren
Kunstbesitz missbraucht fühlen.

Professor Dr. Hans-Jürgen Hellwig ist
Rechtsanwalt und Notar a. D. in Frankfurt.