Ausstellung – Das Museum Schloss Hohentübingen zeigt Honoré Daumiers satirische Lithografie-Serie »Histoire Ancienne« über die großen Heroen der griechischen Antike

Jämmerliche Helden

VON MORITZ SIEBERT

TÜBINGEN. Charles Baudelaire, Zeitgenosse und Bewunderer Daumiers, fand wohl die treffendsten Worte, um Daumiers Auseinandersetzung mit der antiken Bild- und Geisteswelt zu beschreiben: »Daumier ist brutal über die Antike hergefallen, über die falsche Antike – denn niemand fühlt stärker als er, was die Antike Großes hatte – er hat darauf gespuckt.«

Mit spitzer Feder karikiert: der eitle Kriegsherr Menelaos, dem seine frisch zurückeroberte Gemahlin, die »schöne« Helena, heimlich eine Nase dreht.

In den Jahren 1841 bis 1843 schuf der französische Karikaturist Honoré Daumier für die Pariser Zeitschrift Charivari eine Lithografie-Serie, die zu den zentralsten Werken in seinem Œuvre zu zählen ist: die »Histoire Ancienne«, eine 50 Blätter umfassende Serie, die rücksichtslos die römische und griechische Antike samt ihren Helden karikiert.

In Zusammenarbeit mit der Universität Gießen, Lilian und Dieter Noack und sechs weiteren Leihgebern der Daumier-Gesellschaft gelang es dem Tübinger Schlossmuseum 80 Lithografien, darunter die gesamte »Histoire Ancienne«, für eine liebevoll gestaltete Ausstellung zusammenzubringen.

Helena mit Mopsgesicht

Daumier beraubt die antiken Helden ihrer moralischen, geistigen und ästhetischen Größe und lässt die mythologischen Sagen in grotesk-komischen Szenen erscheinen. Da ist Dädalus, der seinen stürzenden Sohn mit einem Fernrohr beobachtet. Oder Narziss: Knochendürr erfreut er sich mit treudoofem Blick an seinem »schönen« Antlitz. Und Menelaos führt, auf Zehenspitzen stolzierend, keine schöne, sondern eine mopsgesichtig-dämliche Helena heim.

Oft sind es schon Details und Nuancen, die den Betrachter fesseln. Mit wenigen Strichen werden unverwechselbar charakteristische Gesichter erfunden, Gestik und Mimik der Figuren sind unmissverständlich und selbstsprechend: Die verlassene Ariadne kaut Fingernägel. Ein Gracchen-Junge popelt in der Nase. Endymions Schnarchen scheint dem Betrachter vernehmbar. Und den Soldaten des Leonidas ist im Gesicht abzulesen, wie sie sich vor der Schlacht gegen das persische Heer fühlen. Zwischen alldem scheint immer wieder Daumiers detailgenaue Kenntnis der mythologischen Sagen und der antiken Kunst durch. In vielen Bildern ist erkennbar, dass Daumier sich direkt an antiken Vorbildern orientiert und sie teilweise nur so stark abändert, dass die Anspielung für den Betrachter ersichtlich bleibt.

Sozialkritische Züge

Neben dem humoristischen und künstlerischen Gehalt der Serie ist der sozialkritische Kontext zu berücksichtigen. Daumier karikiert nicht nur die antike Welt, sondern auch diejenigen, die sich im 19. Jahrhundert deren Ästhetik und Moral zur Maxime erkoren hatten – nämlich das französische Bürgertum und die dem Klassizismus verpflichteten französischen Künstler. Das konnte nicht ohne Folgen bleiben. Zensur und Geldstrafen brachten Daumier einmal mehr an den Rand seiner Existenz, an dem er in seinem Leben so oft stand. Hierin äußert sich schließlich die verblüffende Aktualität der Daumier’schen Karikatur. Welche Macht von einer kritischen Zeichnung ausgehen kann und welche Querelen sie auszulösen vermag, ist heute, 150 Jahre nach Daumier, genauso zu spüren. (GEA.de)

24.7.2008 – REUTLINGER GENERAL-ANZEIGER