von Urs Steiner

Jedermann glaubt Honoré Daumier (1808–1879) zu kennen. Wer einmal eine seiner rund 4000 Lithografien gesehen hat, die der Künstler während vierzig Jahren für die Tagespresse schuf, wird dieses spezielle Genre nie mehr vergessen. Dennoch verstehen nicht einmal die Kunsthistoriker das Phänomen Daumier ganz und gar: Der Grafiker, Zeichner, Maler und Bildhauer ist bis heute ein Forschungsgegenstand mit zahlreichen Leerstellen geblieben. Eigentlich erstaunlich bei einem Künstler, der im 19. Jahrhundert wie kein zweiter in der Öffentlichkeit gestanden hatte, der als erster das modernste Massenmedium der Zeit mit seinen Bildern dominierte.

Kunst aus der Not

So anerkannt, aber auch gefürchtet Daumier für seine Karikaturen im Journal «Le Charivari» war, so erfolglos betätigte er sich als freier Künstler. Seine Werke auf Papier, die er nicht auf Steinblöcke für tagesaktuelle Lithografien gezeichnet hatte, sind entsprechend selten und wenig bekannt. Die meisten davon werden auf die Jahre zwischen 1860 und 1863 datiert – als Daumier von seinem Publikationsorgan aufgrund der Pressezensur freigestellt wurde.

In einer kleinen, aber dichten Kabinettausstellung zeigt der Kurator Bernhard von Waldkirch im Kunsthaus Zürich nicht nur den Lithografen, sondern vor allem den Zeichner, den Maler und am Rande sogar den Bildhauer Daumier. Mit seiner Figur «Ratapoil» verlieh er der Lüge, der Heuchelei und der nackten Gewalt des Zweiten Kaiserreichs von Napoleon III. Gestalt, wie Bernhard von Waldkirch im Katalog ausführt. Die Schau bietet dem geduldigen Publikum, das eine historisch und kunstgeschichtlich komplexe Epoche verstehen will, einiges Anschauungsmaterial. Zum Beispiel die Entstehungsgeschichte des «Drehorgelspielers», einer lavierten und aquarellierten Zeichnung, auf der nicht der Musikant, sondern der staunende Knabe am linken Bildrand eigentlich im Zentrum steht – möglicherweise ein Alter Ego des Künstlers.

Schrulliges Establishment

Rund 70 Zeichnungen und Grafiken Daumiers fächern das Leben im Paris des 19. Jahrhunderts in zahlreichen Schattierungen auf. Daumier fokussiert nicht nur auf die politischen Grossereignisse der Revolutionen und Umstürze, sondern dokumentiert das Leben der kleinen Leute ebenso wie die schrulligen Eitelkeiten des Establishments. So treffen wir auf Gaukler, Pierrots und Künstler ebenso wie auf Juristen, Kunstsammler oder lächerlich verkleidete Bürger am Opernball. Am Schluss der Ausstellung kennen wir Honoré Daumier zwar noch immer nicht recht – aber wir haben ihn irgendwie in unser Herz geschlossen.

Zürich, Kunsthaus, bis 24. Februar. Katalog Fr. 46.–.

NZZ Online, 7.12.2007